Rund 6000 Sprachen gibt es noch auf der Welt, zählen so unterschiedliche Instanzen wie die Sprachforscher Nicholas Evans, Autor des Buches „Wenn Sprachen sterben“, und Ernst Kausen, Verfasser eines fast 2300-seitigen Standardwerks über „Die Sprachfamilien der Welt“ einerseits und die Unesco andererseits. Das amerikanische Naschlagewerk „Ethnologue“, das den Anspruch hat, der vollständigste Ratgeber zur globalen Sprachenvielfalt zu sein, geht sogar von exakt 7099 Sprachen aus.
Champion Neuguinea
Da es zurzeit 193 Staaten auf der Welt gibt und nicht jeder davon eine eigene Sprache hat, erstaunt diese Zahl. Wir Europäer haben zwar mittlerweile gelernt, dass in fast jedem unserer scheinbar monolingualen Nationalstaaten noch indigene Minderheitensprachen existieren, aber selbst wenn man die europäischen Verhältnisse mit drei bis zehn Sprachen pro Land (Einwanderersprachen nicht mitgezählt) auf alle Staaten der Welt hochrechnen würde, käme man nicht auf 6000 global.
Die Zahl erklärt sich allein dadurch, dass es Länder gibt, die eine für Westler unfassbare Zahl von Sprachen bewahrt haben – sie liegen in Asien, Afrika, Amerika, Australien und dem pazifischen Großraum Melanesien.
Nigeria auf Platz 3
Der Champion der Sprachenvielfalt ist Neuguinea. Im unabhängigen Staat Papua-Neuguinea auf dem Westteil der großen Insel zählt Nicholas Evans 847 Sprachen und von 655 Sprachen Indonesiens ist der überwältigendes Teil auf West-Neuguinea beheimatet, das 1963 von den Indonesiern besetzt und annektiert wurde. Ernst Kausen kommt zu etwas anderen Zahlen, geht aber ebenfalls davon aus, dass im sprachlichen Großraum Neuguinea, zu dem auch Osttimor und die Salomonen gehören, 1250 Sprachen existieren.
Nach Papua-Neuguinea und Indonesien verzeichnet Evans Nigeria mit 376 Sprachen auf Platz 3 der sprachenreichsten Länder der Welt. Weitere afrikanische Länder auf der Liste sind Kamerun auf Platz 7 mit 201 Sprachen, der Kongo auf 9 mit 158, Tansania und der Sudan mit 101 und 97 Sprachen auf den Plätzen 13 und 14. Für Afrika insgesamt setzt Ernst Kausen 2070 indigene Sprachen an, von denen mindestens 90 schon ausgestorben sind.
Von den 15 Ländern mit der größten Vielfalt von Ureinwohnersprachen liegen drei auf dem amerikanischen Kontinent: Mexiko mit 230 indigenen Idiomen auf Platz 6, Brasilien mit 185 auf Rang 8 und die USA mit 143 auf Rang 11. Hier muss betont werden, dass Einwanderersprachen bei dieser Statistik nicht mitgezählt sind. Die Zahl für die USA berücksichtigt also nicht Englisch, die für Mexiko nicht Spanisch und bei Brasilien fehlt Portugiesisch.
Der geografische Faktor
Weitere Staaten aus der Gruppe der linguistisch reichsten fünfzehn Länder gehören zum westpazifischen Raum. 153 Idiome sind nach Evans’ Zählung auf den Philippinen zu Hause (Platz 10), 105 auf dem Inselstaat Vanuatu und 92 aus Malaysia.
Diese Vielfalt lässt sich nicht immer mit den gleichen Faktoren erklären. Am einfachsten ist es bei Neuguinea: Dort gibt es an der gesamten Küste eine Vielzahl schroff voneinander abgegrenzter Täler. Diese Trennung begünstigte die Entstehung von Sprachen, die oft nur von ein paar Tausend Individuen gesprochen werden, aber keineswegs bloß Dialekte sind. Evans zählt allein in Papua-Neuguinea 56 Sprachfamilien, das sind genetische Einheiten von miteinander verwandten Sprachen, die nicht notwendigerweise sehr ähnlich klingen müssen: Russisch, Deutsch, Persisch, Englisch und Spanisch gehören beispielsweise alle zur indogermanischen Sprachfamilie.
Viele Wirbeltiere, viele Sprachen
Der geografische Faktor spielt auch bei den Philippinen und Malaysia eine Rolle. Hier sind die vielen Inseln das trennende Element, das die Entstehung mannigfaltiger, häufig recht kleiner linguistischer Einheiten begünstigte. Oft existieren dann auf diesen Inseln noch einmal Täler oder andere voneinander abgetrennte Naturräume, in denen eigene Sprachen gesprochen werden. Am extremsten hat sich diese Sprachverinselung im südpazifischen Staat Vanuatu ausgewirkt, der wie Papua-Neuguinea zu Melanesien gehört. Dort gibt respektive gab es auf den 67 bewohnten Inseln laut Evans 105 Sprachen.
Der Sprachanthropologe Doug Harmon hat 1996 als Erster in Nordamerika nachgewiesen, dass es auch einen Zusammenhang zwischen der biologischen Vielfalt eines Raumes und der Sprachenvielfalt gibt. Harmons Untersuchungen wurden seitdem für alle Länder diese Welt wiederholt und bestätigt. Die Gruppe der Länder mit der größten Variation bei den Spezies einheimischer Wirbeltiere ist nahezu deckungsgleich mit derjenigen, die den größten Sprachreichtum hat – auch wenn die Plätze auf der Wirbeltier-Rangliste nicht immer exakt identisch mit denen der Sprachstatistik sind. Den höchsten Wirbeltierreichtum hat beispielsweise Australien mit 1346 Spezies, aber bei den Sprachen liegt es mit 269 auf Platz fünf. Indien erreicht mit 373 Wirbeltieren Rang 7, mit 309 Sprachen Rang 4.
Die Beispiele Australien und Indien zeigen einen weiteren Faktor, der die Fortexistenz von Sprachenvielfalt begünstigt: Die Abwesenheit von Nationalstaaten oder Imperien, deren Amts- und Verkehrssprachen, die vielen kleineren Sprachen verdrängen. In den mindestens 50.000 Jahren von der Ankunft der Aborigines auf dem Kontinent bis zum Beginn der europäischen Kolonisation im späten 18. Jahrhundert gab es in Australien keine Staaten, aber auch keine weiträumigen Eroberungszüge bestimmter Gruppen, die ihre Sprache in Großräumen verbreitet haben. Seitdem Englisch Staatssprache wurde, begann aber auch in Australien das große Sprachensterben. Von 269 sind 140 schon verschwunden. Die meisten noch existierenden Idiome werden nur noch von wenigen mittelalten bis alten Menschen gesprochen. Die Hälfte haben weniger als 50 Sprecher. Ernst Kausen geht davon aus, dass bis 2050 fast alle australischen Sprachen ausgestorben sein werden.
Die Abwesenheit von Imperien
Auch in Indien hat es sich für die Fortexistenz der heute noch gesprochenen 110 indoarischen, 27 dravidischen und zahlreichen isolierten, also zu keiner Familie gehörenden Sprachen positiv ausgewirkt, dass der Subkontinent immer wieder über lange Zeiten politisch zersplittert war. Das große Sprachensterben begann erst, als die Engländer fast ganz Indien unter ihrer Herrschaft einigten. Allerdings gibt es auf dem bevölkerungsreichen Subkontinent – ganz anders als im dünn besiedelten Australien – noch relativ viele Sprachen, die von Hunderttausenden oder gar Millionen genutzt werden. Außerdem haben selbst kleinere Sprachen dort eine sich stabilisierend auswirkende Schriftkultur und eine eigene Schrift. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass dort so bald alle indigenen Idiome bis auf wenige Großsprachen verschwinden.
Die größten Sprachkiller
Das Englische ist wie erwähnt eine indogermanische Sprache, und die zu dieser Familie gehörenden Idiome haben sich durch die europäische Kolonisation der Welt überall als große Sprachkiller erwiesen. So wie Englisch in Australien und den USA einheimische Sprachen ausradiert, wirken auch Spanisch und Portugiesisch in Süd- und Mittelamerika. Weniger beachtet hat Russisch in Sibirien zahlreiche indigene Sprachen verschwinden lassen. Auf Papua-Neuguinea können immer mehr Menschen nur die auf der Basis des Englischen entstanden Verkehrssprache Tok-Pisin. Nicht-indoeuropäische Sprachen, die sich als große Verdränger auswirken, sind heute das Indonesische in der westpazifischen Inselwelt oder das Arabische im Sudan. Schon vor langer Zeit verschwanden zahlreiche afrikanische Sprachen, als die Bantuvölker fast den ganzen Süden des Kontinents eroberten und dort ihre Sprachen verbreiteten.
Solche Auslöschungsprozesse müssen übrigens keineswegs immer erzwungen sein: Die Verdrängung der vorindogermanischen Sprachen Europas, von denen heute nur noch das Baskische existiert, erfolgte keineswegs dadurch, dass die Indogermanen, die aus den Steppen Südrusslands gekommen waren, den Ureinwohnern ihre Sprache aufdrängten oder gar die alte Bevölkerung ausrotteten. Sondern im Verlauf von Jahrtausenden legten vermutlich immer mehr Menschen ihre alten Sprachen ab und lehrten ihre Kinder nur noch die neuen – ganz einfach weil die Eroberersprachen ein höheres soziales Prestige hatten und man sich mit ihnen auch außerhalb der eigenen ethnischen Nische verständigen konnte.
Als Italien lateinisch wurde
Im Beispiel der italischen Halbinsel lässt sich nachvollziehen, wie so etwas in der Antike ablief. Inschriften bezeugen zwischen zwölf und 15 verschiedene Sprachen im vorrömischen Italien, die sich stark voneinander unterschieden. Die Römer versuchten keineswegs, diese Sprachen auszurotten. Die Umbrier beschrifteten noch Jahrhunderte nach der römischen Eroberung Monumente und Steintafeln in ihrer Sprache und auch die Etrusker behielten ihre noch lange bei. Das Lateinische benutzten diese Völker wohl zunächst nur in der Kommunikation mit Fremden. Doch nach und nach „drängte es das lokale Idiom genauso wie den lokalen politischen Einfluss und lokale Angelegenheiten insgesamt immer mehr zurück“, schreibt Ernst Pulgram in seinen Buch „The Tongues of Italy“, das ein prächtiger wissenschaftlicher Grabstein für all diese längst gestorbenen Sprachen Italiens ist. Ungefähr zur Zeit von Christi Geburt wurde in Italien nur noch Lateinisch und Griechisch gesprochen.
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Author: Samantha Lara
Last Updated: 1703184122
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